Der Coming-of-Age-Film „Bird“ ist mehr als bloß raues Sozialdrama über prekäre Lebensumstände in einer kleinen britischen Hafenstadt. Es ist ein fantastisches Filmerlebnis, das vom Aufwachsen und von Community erzählt und dabei Genregrenzen sprengt. Unterlegt von einem kraftvollen Post-Punk-Soundtrack und mit einem bemerkenswerten Schauspieldebüt von Nykiya Adams.
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Von Jan Hestmann
Der junge Vater Bug (Barry Keoghan) lebt gemeinsam mit seinen Kindern, der 12-jährigen Bailey (Nykiya Adams) und deren älterem Halbbruder Hunter (Jason Buda) in einem heruntergekommenen, besetzten Haus in der Hafenstadt Gravesend im Norden von Kent. Dort schlägt er sich als Hobby-Dealer durch. Sein aktueller Coup: eine spezielle Kröte, aus der er eine halluzinogene Superdroge generieren will. Seine neue Cash Cow in einem Plastiksackerl transportierend, saust der ganzkörpertätowierte Jungvater Tag ein, Tag aus mit seinem E-Scooter durch die Gegend und lässt sich dabei von Post-Punk-Musik beschallen.
Bailey hat sich mit den Spinnereien ihres Vaters längst arrangiert. Die meiste Zeit streift sie allein durch die Stadt oder versucht, sich an die Gang ihres großen Bruders anzuhängen. Ihr Alltag wird aber erschüttert, als Bug ihr unvermittelt erklärt, dass er seine neue Freundin Kayleigh (Frankie Box) heiraten will, die auch noch ein weiteres Kind in die bereits komplizierten Familienverhältnisse mitbringt. Die Hochzeit soll schon in ein paar Tagen stattfinden. Bug verlangt Baileys Einverständnis, aber die denkt gar nicht dran und läuft davon. Dabei trifft sie einen seltsamen Fremden, der sich Bird nennt (Franz Rogowski).
Bird
Bailey (Nykiya Adams) mit ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) auf dem E-Scooter
Andrea Arnold strikes again
Die britische Filmregisseurin und Oscar-Preisträgerin Andrea Arnold ist eine Meisterin des modernen Sozialdramas. Schon in ihrem Film „Fish Tank“ aus dem Jahr 2010 widmet sie sich einem abgehängten Milieu inmitten einer Arbeitersiedlung in Ostengland und erzählt dessen Geschichte aus der Perspektive einer 15-jährigen Schulabbrecherin. Für ihr Roadmovie „American Honey“ wechselt sie 2016 den Drehort in die USA - aber auch dort dreht sich die Geschichte um die Außenseiter. In der Rolle der 18-jährigen Star aus Oklahoma ist die Schauspiel-Newcomerin Sasha Lane zu sehen, die sich einer Gruppe Jugendlicher anschließt, die durch den Mittleren Westen reist, um Haustürgeschäfte abzuwickeln und nebenbei ausgelassene Partys zu feiern.
Niemals aber könnte man Arnolds Filme als Sozialporno bezeichnen - viel zu groß ist die Liebe zu ihren Figuren. So auch in ihrem neuen Film „Bird“, den Arnold mit für sie typisch unruhiger Kamera temporeich erzählt und dann auch gewitzt ins Märchenhafte treiben lässt. Wieder stellt Arnold diejenigen ins Zentrum ihrer Geschichte, die die Bessergestellten der Gesellschaft im Alltag am liebsten ausblenden würden. Für ihre Filme arbeitet die Regisseurin immer wieder auch mit Laiendarsteller:innen und Schauspiel-Newcomern. In „American Honey“ konnte Sasha Lane strahlen, der Film markierte den Beginn ihrer Schauspielkarriere. In „Bird“ legt nun Newcomerin Nykiya Adams ein großartiges Debüt hin und man darf schon gespannt sein, wie es mit ihr weitergeht.
Bird
Franz Rogowski als unwirklich scheinender Traumtänzer Bird
Adams zur Seite stellt Andrea Arnold den immer famosen Barry Keoghan, dessen schauspielerischer Durchbruch ebenfalls noch nicht allzu lange zurückliegt und der eine entfesselte Performance als schrulliger Jungvater Bug hinlegt. Und dann ist da noch Franz Rogowski. Als Traumtänzer Bird auf der Suche nach seinen Wurzeln gibt er eine, man könnte sagen, Rogowski-typische Darbietung einer etwas verschrobenen Figur. Er wirkt lange Zeit wie ein etwas gekünstelter Fremdkörper in diesem rauen und dann aber doch sehr warmherzigen britischen Sozialdrama. Man muss sich an seine Anwesenheit im Film gewöhnen und irgendwann tut man das aber auch. Dass Arnold anhand seiner Figur ganz bewusst versucht, den Realismus in „Bird“ auszuhebeln, ist dann auch ein bemerkenswerter Eingriff, der ihr Filmschaffen um eine neue Facette bereichert.
Der Soundtrack als Protagonist
Ein weiterer wichtiger Protagonist in „Bird“ ist die Musik. Arnold hat ihrem Film einen lauten, wilden Post-Punk-Soundtrack eingewoben, Bands wie Fontaines D.C. oder Sleaford Mods treiben die Handlung an. Dazu mischen sich auch harte Hiphop/Trap-Beats, etwa vom Londoner Rapper SV. Gitarrist Carlos O’Connell von den Fontaines D.C. - für deren Musikvideo zu „Bug“ Andrea Arnold übrigens auch Szenen aus dem Film zusammengefügt hat - hat sogar eine kleine Rolle im Film.
Und auch in zwei der allerschönsten Szenen des Films stehen Songs im Zentrum: einmal, als Bug gemeinsam mit seinen Punk-Freunden im besetzten Haus zu Coldplays „Yellow“ mitgröhlt und einmal, als die Hochzeitsgesellschaft zu „Cotton Eye Joe“ von Rednex tanzt. Es sind absurde Momente voller Zuneigung, die zeigen, dass das Wichtigste am Ende immer die Community ist, egal welche Zustände drumherum herrschen. Das in Filmbildern zu vermitteln, kann kaum jemand so gut wie Andrea Arnold. Auf dass sie es uns noch viele Male im Kino zeigt.
Bird
Nykiya Adams in ihrer Debüt-Filmrolle als Bailey
Publiziert am 14.02.2025
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